Talmud und Midrasch: Wichtige Werke der Juden

Talmud und Midrasch: Wichtige Werke der Juden
Talmud und Midrasch: Wichtige Werke der Juden
 
Das Judentum gilt dem Christentum als Religion des Buchstabens und das jüdische Volk dem Islam als ein Volk des Buches. Die »Schrift« besteht aus den 24 Büchern der heiligen Schriften, die bis zum Häkchen des kleinsten Buchstabens, des Jods, ja bis zu den Verzierungen der Buchstaben festgelegt und unveränderlich sind. Sie ist zwar ein Fundament des Judentums. Dazu kommt aber die gleichfalls als Offenbarung geltende Tradition der Auslegung. Bereits die Feststellung des Lautbestandes der hebräischen Konsonantenschrift und damit des korrekten Wortlauts eines Textes, setzt eine Überlieferung voraus, die »Massora«. Die »Schrift« nennt sich selbst bezeichnenderweise »Lesung«, weil sie zum mündlichen Vortrag bestimmt ist und dem Volk als Belehrung und Weisung (»Thora«) dienen soll. Dem Volk die »Schrift« verständlich zu machen, ist die Aufgabe der Schriftgelehrten (Nehemia 8, 8). Sie bedienen sich dabei einer kommentierenden Auslegungs- und Vermittlungsmethode, des Midraschs. Dessen erste Stufe ist die Übersetzung in die aramäische Umgangssprache der Gemeinde. Sie erschöpft sich aber keineswegs in einer Wort-für-Wort-Übertragung des Textes; der Übersetzer arbeitet vielmehr zur Erbauung der Gemeinde die aktuellen religiösen Vorstellungen - etwa die Kritik an einer zu gegenständlichen Rede von Gott - in die Übersetzung hinein.
 
Ferner besteht der Midrasch im eigentlichen Sinn aus überlieferten Auslegungen der Bibelverse im Lichte anderer Bibelverse. Der Wortlaut des Textes bleibt zwar unangetastet, sein Sinn aber wird durch eine Hermeneutik, die auch entlegene Deutungen gestattet, erschlossen. Der Wortlaut ist also weniger Garant als vielmehr Stütze für unterschiedliche Lehren, deren letzte Rechtfertigung die Autorität der Lehrer ist. In den Midrasch-Werken werden die Erklärungen der Rabbinen zu den Bibelversen unvermittelt nebeneinandergestellt. Inhaltlich und nach dem Grad der Verbindlichkeit können grundsätztlich zwei Arten von Midraschim unterschieden werden: zum einen der Midrasch Halacha, der zumeist an die Gesetzestexte anknüpft und an der Erweiterung oder exegetischen Rechtfertigung des Religionsgesetzes interessiert ist. Dieser Midrasch wendet feststehende juristische Auslegungsregeln wie etwa die Induktion und den Analogieschluss an, um Vorschriften aus der Schrift abzuleiten oder sie auf die Schrift zurückzuführen. Die zweite Midraschart ist der Midrasch Haggada, der überwiegend an die nichtgesetzlichen Teile der Schrift anknüpft und an einer Aktualisierung der Erzählungen, Verheißungen und Weisheiten der Bibel interessiert ist. Der Midrasch Haggada bedient sich eines etwas umfangreicheren hermeneutischen Regelkanons. Die 13 Auslegungsregeln des Rabbi Jischmael aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die täglich im Morgengebet aufgesagt werden und die sich mehr am natürlichen Sinn der Sprache orientieren, und die 32 Regeln aus der Schule Rabbi Akibas, die mehr auf den verborgenen Sinn der Schrift ausgerichtet sind, gelten selbst als Teil der mosaischen Offenbarung, sodass der Midrasch als Entfaltung der in der schriftlichen Thora enthaltenen Lehren erscheint. Neben der Schrift wuchs so eine kaum überschaubare Masse von Auslegungstraditionen der Schrift, die als gleichrangiger oder sogar vorrangiger Teil der Offenbarung betrachtet werden. Eine vom Lehrer autorisierte Lehre eines Schülers, heißt es, gilt als Offenbarung des Moses am Sinai.
 
Diese paradoxe Lehre der doppelten Offenbarung, der Buchstaben- und der Sinnoffenbarung, illustriert eine berühmte, leicht ironische rabbinische Parabel. »Als Mose in die Höhe stieg, traf er den Heiligen, gepriesen sei er, dasitzen und Krönchen für die Buchstaben winden. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, wer hält deine Hand zurück? Er erwiderte: Es ist ein Mann, der nach vielen Generationen sein wird, namens Rabbi Akiba ben Josef; er wird aus Häkchen Haufen von Halachot auslegen. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da wandte er sich um und setzte sich am Schluss der achten Reihe (im Lehrhaus des Rabbi Akiba), doch er verstand nicht, was sie sagten und hatte einen Schwächeanfall. Als jener zu einer Sache gelangte, sprachen seine Schüler zu ihm: Rabbi, woher hast du das? Er sprach zu ihnen: eine Halacha an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich Mose. Hierauf kehrte er um, trat vor den Heiligen, gepriesen sei er, und sprach vor ihm: Herr der Welt, du hast einen solchen Mann, und verleihst die Thora durch mich! Er sagte: Schweig, so habe ich es beschlossen! Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, du hast mir seine Thora gezeigt, zeige mir seinen Lohn! Er sprach: Wende dich um. Da wandte er sich um und sah sein Fleisch auf der Fleischbank wiegen: Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, das die Thora und dies ihr Lohn? Er erwiderte: Schweig, so habe ich es beschlossen!«
 
Im Kontext dieser Haggada (Erzählung) geht es darum, dass die Gebetskapseln mit dem Glaubensbekenntnis, die an die Türpfosten befestigt werden, ungültig sind, wenn nur ein Häkchen des Jod beschädigt ist. Die Haggada bezieht sich darüber hinaus auf die Kronen, die bestimmten Buchstaben in den Thorarollen zugefügt werden. Die Frage des Mose scheint zu sein, warum Gott seine Offenbarung nicht einfach kundgibt und mit diesen scheinbar überflüssigen Zeichen versieht. An diese Häkchen werden, so die Antwort Gottes, geschichtliche Entwicklung, Erweiterung und Veränderung des buchstäblichen Sinns der Offenbarung anknüpfen können - eine Veränderung, die selbst Moses nicht mehr versteht. Es ist nach dieser Haggada Gottes Wille, die Offenbarung der Zeit und der Geschichte zu überantworten. Das heißt aber auch, dass die Auslegung in der Verantwortung des Auslegers liegt, auch wenn er, wie Rabbi Akiba, der messianische Ansprüche aus der Schrift gerechtfertigt hat, dafür unter den Römern den Märtyrertod erlitt.
 
Die Rabbinen nahmen an, dass es neben der schriftlichen Thora eine unabhängige mündliche Thora gibt, die in einer ununterbrochenen Kette von Moses bis Rabbi Jehuda ha-Nasi im 2. Jahrhundert weiter gereicht und vom letzteren in der Mischna gesammelt wurde. Mischna bedeutet »Wiederholung« und bezieht sich auf das Lernen der mündlichen Lehre. Die Mischna ist ein vom Midrasch Halacha gelöster, selbstständiger Gesetzeskodex, strukturiert in sechs »Ordnungen« (Sedarim), die den zentralen Bereiche des jüdischen Lebens entsprechen: Ackerbau, Festzeit, Eherecht, Zivil- und Strafrecht, Opfergesetze und Reinheitsgesetze. Die Streitfrage, ob die Mischna eine Zusammenfassung des Midrasch Halacha ist oder umgekehrt der Midrasch Halacha eine Rechtfertigung der Mischna, ist nach wie vor ungeklärt.
 
Wie die schriftliche Thora ist auch die Mischna heute wieder zum Gegenstand der schulmäßigen Erörterung geworden. Wenn die Kodifikatoren der Mischna die Absicht gehabt haben sollten, das Gesetz ein für allemal festzustellen, dann wären sie damit gründlich gescheitert. Denn die in diesem Kodex nicht aufgenommenen Lehren (»Baraitot«) sind keineswegs in Vergessenheit geraten, sondern als Niederschlag geltender Halacha zum Beispiel in der Tossefta (»Hinzufügung«) gesammelt und wieder mit der Mischna konfrontiert worden. Die kontroversen Diskussionen über diesen gesamten Stoff bilden den Inhalt der Gemara (»überlieferte Lehre«, »Tradition«). Mischna und Gemara bilden zusammen den Talmud (»Lehre«, »Studium«). Vom Talmud wiederum gibt es - entsprechend den beiden Zentren jüdischer Gelehrsamkeit - zwei Fassungen: Die erste, der jerusalemische Talmud (»Jeruschalmi«), ging aus den Lehrhäusern Palästinas hervor und wurde Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. abgeschlossen; die zweite, der babylonische Talmud (»Bawli«), ist ein Produkt der rabbinischen Akademien Babyloniens und wurde im 6. Jahrhundert vollendet. Diese Fassung hat sich wirkungsgeschichtlich von Beginn an durchgesetzt, weil im Gegensatz zu den stark bedrängten palästinischen Lehrhäusern die Autorität der babylonischen Akademien, deren Leiter den Titel »Gaon« (Exzellenz, Eminenz) führten, bis zum 11. Jahrhundert für die jüdische Diaspora anhielt.
 
Anschließend verlagerten sich die Schwerpunkte des Talmudstudiums einerseits nach Nordafrika und Spanien (Sefarad), andererseits nach Frankreich und Deutschland (Aschkenas), hier vor allem nach Mainz. RabbiSalomo ben Isaak aus Troyes, nach den Initialen seines Namens Raschi genannt, studierte im 11. Jahrhundert in Mainz und Worms und hat den Ertrag der rheinländischen Lehrhäuser in seinen erläuternden Glossen zum größten Teil des Talmuds festgehalten. Raschis fortlaufender Kommentar zum Talmud ist für das traditionelle Verständnis des Textes - eines Textes »ohne Punkt und Komma«, verfasst in schwierigen aramäischen Dialekten, mit vielen Lehn- und Fremdwörtern und abweichenden Lesarten - unerlässlich und in allen Standardausgaben des Talmud bis heute auf dem inneren Rand neben dem Text abgedruckt. Die Nachkommen Raschis und ihre Schüler haben die talmudischen Texte diskutiert und in so gennanten Tossafot (»Ergänzungen«) fortgeschrieben und harmonisiert. Diese Arbeit am Talmud bildet das Rückgrat der jüdischen Tradition. Der Talmud ist allerdings kein Gesetzeskodex. Die Diskussion des Religionsgesetzes (der Halacha) bleibt hier in der Regel unentschieden, wenn auch Entscheidungsregeln an die Hand gegeben werden. Es kommt im Talmud offenbar mehr auf die kontroverse, analytische Erschließung des halachischen Stoffes an als auf die praktische Regel. Darüber hinaus ist umfangreiches und sehr verschiedenartiges haggadisches Material eingearbeitet, das alle spirituellen Aspekte des religiösen Lebens betrifft.
 
Die Erschließung des babylonischen und auch des jerusalemischen Talmud, wie seiner Kommentare, Superkommentare, Korrekturen und Novellen, wird bis heute unvermindert fortgesetzt, was sich etwa in den Apparaten an den Rändern und in den Anhängen der großen Talmudausgabe, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Wilna erschien, niederschlägt.
 
Dr. Daniel Krochmalnik
 
 
Maier, Johann: Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert. Neuausgabe Freiburg im Breisgau u. a. 21992.
 Stemberger, Günter: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977.
 
Der Talmud. Einführung — Texte — Erläuterungen, herausgegeben von Günter Stemberger. München 31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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